Psalmen – Gebete auf dem Weg | Teil 3
Während im Christentum die Bezeichnungen „Psalm“ und „Psalter“ üblich sind [1], nennt die jüdische Tradition den Psalter üblicherweise Sefer tehillim „Buch der Lobpreisungen“ oder einfach Tehillim „Lobpreisungen“ bzw. – mit Martin Buber – „Preisungen“. Diese Bezeichnung ist alt. Schon der Kirchenvater Hieronymus (ca. 347-420 n. Chr.) weiß um diesen hebräischen Titel des Psalters. Und Jahrhunderte vor ihm, unter den in Qumran aufgefundenen Schriftrollen aus dem 1. Jhdt. v. Chr., ist der Name Tehillim für die Psalmen bereits bezeugt. [2]
Warum die Überschrift „Tehillim“?
Die Bezeichnung Tehillim „Preisungen“ für das Psalmenbuch ist insofern originell und überraschend, als die meisten dieser Gebete gerade keine Loblieder sind. Der Psalter besteht überwiegend aus Klagen und Bittgebeten, in denen Menschen ihre alltäglichen kleinen wie großen Sorgen vor Gott bringen. Möglicherweise endete die Psalmensammlung auf einer ihrer Vorstufen mit einer entsprechend abweichenden Unterschrift. Die Schlussnotiz am Ende des zweiten Psalmenbuches in Ps 72,20 könnte dies bestätigen: „Zu Ende sind die (Bitt-)Gebete (Tefillot) Davids, des Sohnes Isais.“ Tatsächlich überwiegen in der ersten Hälfte des Psalters Ps 1 bis 72 die Klagen und Bittgebete, melden sich aber auch in den drei folgenden Psalmenbüchern 73 – 89, 90 – 106 und 107 – 145 noch zu Wort.
Lobpreis als theologisches Programm
Wenn mit der Überschrift Tehillim „Preisungen“ eine ältere Bezeichnung Tefillot „Bittgebete“ ersetzt wird, dann handelt es sich keinesfalls um eine Korrektur, die beschönigen oder die harte Lebenswirklichkeit ausblenden will. Hinter der Bezeichnung Tehillim verbirgt sich vielmehr ein theologisches Programm, auf das nun näher einzugehen ist.
Es ist auffällig, dass im letzten Teil des Psalters der Lobpreis dominiert. Dazu trägt in erheblichem Maß das sogenannte Schlusshallel (Ps 146 - 150) bei. Diese fünf Lobpsalmen bilden gleichsam das große Finale des gesamten Psalters. Sie sind jeweils mit dem Aufruf hallelû-jāh „preist Jah(we)“ gerahmt, so dass das Schlusshallel zehnfach zum Lobpreis Gottes aufruft. Zugleich greift dieser zehnfache Aufruf auf die zehn Schöpfungsworte in Gen 1 und auf den Dekalog in Ex 20, die sogenannten zehn Gebote, zurück. Die Psalmen des Schlusshallel geben somit das Ziel des Psalmenbetens an. Dieses soll in einen Lobpreis aller Geschöpfe einmünden: als Dank für das Geschenk der Schöpfung, die dem Menschen und seiner Verantwortung anvertraut ist, und als Dank für Gottes Wegweisung vom Sinai, die das Gottesvolk auf der Pilgerschaft zur endgültigen Fülle in einem Leben vor Gottes Angesicht führt.
Doch daneben steht der Kontrast. Die meisten Psalmen sind gerade keine Loblieder. Der Psalter besteht überwiegend aus Klagen und Bittgebeten. Das bedeutet: All die vielfältigen menschlichen Erfahrungen, die in den Psalmen zur Sprache kommen – Klagen und Schreie, Rufe aus den Nächten des Lebens, Siege und Niederlagen, Bitte und tastendes Vertrauen, Krankheit und Verfolgung, Scheitern und Neubeginn, Hoffnung trotz allem, was dagegenspricht – alles dies trägt in sich den Keim, die Bestimmung, zum Lobpreis zu werden.
Lobpreis – was ist das?
Was aber hat es mit dem Lobpreis auf sich? Lobpreis ist kein äußerliches Tun. Es geht nicht darum, frohe Lieder zu singen oder gute Stimmung und Optimismus zu verbreiten. Lob bedeutet für die Frauen und Männer der Bibel weitaus mehr. Lob ist für die alttestamentlichen Beterinnen und Beter ein grundlegender Lebensvollzug. Leben und Loben gehören zusammen. Wo kein Lob mehr geschieht, da bricht der Tod ein. „Die Toten loben dich nicht“ betet der kranke König Hiskija (Jes 38,18-19) und bittet um Genesung. In Ps 119,175 äußert sich der Beter in einem ähnlichen Sinn: „Meine Seele lebe, sodass sie dich lobe.“
Der Lobpreis ist ein elementares Merkmal menschlicher Existenz. Das Leben selbst hat die Bestimmung, zu einem Loblied zu werden, ein Loblied zu sein. Wo diese Melodie des Lebens unterbrochen ist, sei es durch Lebensminderung wie Krankheit und Unheil, sei es durch eigene oder fremde Schuld, reagiert der Mensch mit der Klage. Die Klage ist die Kehrseite des Lobes. Beide – Lob und Klage – gehören zusammen. Beide sind ausgerichtet auf die innige Verbindung mit Gott und auf Gemeinschaft unter den Menschen. Wo diese Gemeinschaft und die Erfahrung inniger Gottesnähe gegeben sind und erfahrbar werden, formen sie sich aus zum Lob. Wo sie fehlen, wird dieses Defizit zur Klage. Klage ist die sehnsüchtige Ausschau nach dem, was als Abwesenheit und Verlust schmerzlich empfunden und durchlitten wird.
Gotteslob als Grundform von Theologie
Zu diesem theologischen Programm des Psalters als „Lobpreis“ äußert sich der evangelische Alttestamentler Bernd Janowski trefflich: „Dass der Psalter … trotz seiner zahlreichen Klagepsalmen ein ins Überdimensionale gesteigerter Lobpreis Gottes ist, hat seinen Anhalt darin, dass das ‚Loben Gottes’ eine Grundform von Theologie und nach alttestamentlichem Verständnis sogar die Bestimmung des Menschen ist. Denn im Lobpreis Gottes relativiert sich die Selbstmächtigkeit und Selbstverabsolutierung des Menschen und bringt zum Ausdruck, was der Kern der Gott-Mensch-Beziehung ist: die rettende Zuwendung des barmherzigen Gottes.“ [3]
Not nicht verdrängen, sondern ihr einen Namen geben
Damit das ganze Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten zum Lobpreis Gottes wird, gerade deshalb ist es unerlässlich, die Sorgen und Nöte, die Fehler und Sünden [4] nicht zu verdrängen, sondern ihnen einen Namen zu geben und sie ins Gebet zu bringen. Was verdrängt wird, bleibt unerlöst bei mir. Es belastet und beeinflusst mich weiterhin und trübt den Blick zu den Schwestern und Brüdern. Was ins Wort gebracht, im Wort weitergegeben und im Gebet Gott anheimgegeben wird, kann im Licht der Gegenwart Gottes heil werden. Die Psalmen zu beten bedeutet somit, im Gebet sein Leben vertrauend Gott anheimgeben, damit das Leben transparent wird: durchlässig auf Gott hin und von ihm her; neu durchlässig auch für das Miteinander unter den Menschen.
Die Dynamik des Psalmengebets
Die Dynamik des Psalmenbetens zielt also darauf, dass jegliche Lebensäußerung in den großen Lobpreis Gottes einmündet. Selbst die Klagegebete durchschreiten diesen Weg. Ausgehend von der Notlage, über die Bitte um Hilfe und das damit verbundene Vertrauensbekenntnis führen sie hin zum dankenden Lobpreis. Die Dynamik hin zum Lobpreis zeigt sich also selbst in den Klagegebeten. [5] Sie wird besonders sichtbar am Ende der fünf Psalmenbücher, die jeweils mit einem Lobpreis abgeschlossen werden. [6] Seine Vollkraft entfaltet der Lobpreis im bereits erwähnten Schlusshallel, den Psalmen 146 – 150.
Dabei ist auch innerhalb des Schlusshallel noch ein deutliches Crescendo [7] zu erkennen. Ps 146 beginnt mit der Selbstaufforderung zum Lobpreis: „Lobe den Herrn, meine Seele! Ich will den Herrn loben in meinem Leben, meinem Gott singen und spielen, solange ich da bin.“ Dem „Ich“ des Beters und der Beterin schließen sich in Ps 147,12 „Jerusalem“ und „Zion“ als lobpreisendes Subjekt an: „Jerusalem, rühme den Herrn! Lobe deinen Gott, Zion!“ Die ganze Gemeinde vollzieht somit den Lobpreis Gottes. In Ps 148 erfolgt eine erneute Ausweitung: „Himmel und Erde“ sind zu einem universalen Lobpreis Gottes aufgefordert. [8] Die gesamte Schöpfung also soll einstimmen in das große Gotteslob.
Ps 149 kehrt wieder zurück zur Gemeinde der Frommen. Der abschließende Psalm 150 fordert „alles, was atmet“ zum allumfassenden Lobpreis Gottes auf. Dieses Finale des Psalters zeigt zugleich das Ziel des Psalmenbetens an: einzelne Beterinnen und Beter, Gruppen und Gemeinden, die ganze Gemeinschaft der Glaubenden, die gesamte Schöpfung und alles, was Lebensodem in sich trägt, zum Vibrieren zu bringen. Alles Leben soll von Gott her und auf ihn hin „in Schwingung“ gebracht werden.
Prof. Dr. Franz Sedlmeier, Universität Augsburg
Inhalt von Teil 4 in der nächsten Ausgabe:
Freude an der Weisung des Herrn – Impulse aus Psalm 1
In David, dem Psalmendichter und Psalmensänger, kann und darf sich der ganze Kosmos artikulieren und dem Schöpfer dankend und anbetend Antwort geben. Die jüdische Tradition erzählt dazu folgendes:
„Wie schuf Gott die Seele des David, des künftigen Psalmensängers? – Er öffnete die Tore des Gesangs, er nahm das Trillern der Vögel, das Raunen der Wälder, die angenehmen Stimmen des zarten Windes, der sich zwischen den Zweigen und Blättern hören lässt, das Rauschen der Quellen und Bäche, den Gesang derer, die zu Gott flehen, und ihre Danklieder – und machte daraus eine Seele, die er David einhauchte.“ [i]
Aus der Enzyklika Laudato si´ von Papst Franziskus, aus Nr. 246
Gott der Liebe,
zeige uns unseren Platz in dieser Welt
als Werkzeuge deiner Liebe
zu allen Wesen dieser Erde,
denn keines von ihnen wird von dir vergessen.
Erleuchte, die Macht und Reichtum besitzen,
damit sie sich hüten vor der Sünde der Gleichgültigkeit,
das Gemeinwohl lieben, die Schwachen fördern
und für diese Welt sorgen, die wir bewohnen.
Die Armen und die Erde flehen,
Herr, ergreife uns mit deiner Macht
und deinem Licht,
um alles Leben zu schützen,
um eine bessere Zukunft vorzubereiten,
damit dein Reich komme,
das Reich der Gerechtigkeit, des Friedens,
der Liebe und der Schönheit.
Gelobt seist du.
Amen.
[i] Zitiert aus: Zenger, Mit meinem Gott überspringe ich Mauern, 236f.
[1] Siehe dazu den Beitrag in der letzten Nummer: Die Psalmen Davids – von der „Davidisierung“ des Psalters, in: „Betendes Gottes Volk“ 297 (2024/1), 12-13.18.
[2] In eine der Qumranschriften ist die Notiz eingefügt, David habe 3600 Tehillim und weitere 450 „Lieder“ verfasst. Dies bestätigt zum einen das relativ hohe Alter dieser Bezeichnung, zum anderen zeigt sich erneut die besondere Rolle Davids als Psalmendichter.
[3] Bernd Janowski, Die „Kleine Biblia“. Zur Bedeutung der Psalmen für eine Theologie des Alten Testaments, in: Erich Zenger (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg 1998, 381-420, hier: 401.
[4] Vgl. Ps 32,3-5: „3 Solang ich es verschwieg, zerfiel mein Gebein, den ganzen Tag musste ich stöhnen. 4 Denn deine Hand liegt schwer auf mir bei Tag und bei Nacht; meine Lebenskraft war verdorrt wie durch die Glut des Sommers. [Sela] 5 Da bekannte ich dir meine Sünde und verbarg nicht länger meine Schuld vor dir. Ich sagte: Meine Frevel will ich dem Herrn bekennen. Und du hast die Schuld meiner Sünde vergeben.“
[5] Dazu später mehr, wenn wir uns mit den Klagegebeten befassen.
[6] Vgl. Ps 41,14; 72,18f; 89,53; 106,48; 145,1-2. Ausführlicher dazu: Der Psalter – ein Lebensbuch, in: „Betendes Gottes Volk“ 296 (2023/4), 8-10.
[7] Crescendo: Steigerung, meist in der Musik für zunehmende Lautstärke; in unserem Zusammenhang: Steigerung des Lobpreises.
[8] Vgl. Ps 148,1: „Lobt den Herrn vom Himmel her, lobt ihn in den Höhen“ – V 7: „Lobt den Herrn von der Erde her.“ „Himmel“ und „Erde“ stehen für die gesamte Schöpfung. Vgl. Gen 1,1: „Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde.“
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