Edith Stein: Unbequeme Heilige und Hoffnung Europas
Ihr Leben war ein Leben mit Ecken und Kanten. Ein Leben der rastlosen Suche und auch Widersprüchlichkeiten. Sie war Atheistin, Jüdin, Christin, Philosophin – und am Ende eine mutige, blitzgescheite Ordensfrau, die den historischen Furor ihrer Zeit erkannte und letztlich in die unerbittliche Mordmaschinerie des Nationalsozialismus geriet. Heute stößt, ja stolpert man an vielen Orten über ihren Namen: Edith Stein – oder mit ihrem Ordensnamen: Teresia Benedicta vom Kreuz, eine Heilige und seit 1999 Patronin Europas. Unzählige „Stolpersteine“ in deutschen Städten tragen ihren Namen; ebenso Schulen und Hochschulen, Spitäler, Kultureinrichtungen und Gebäude wie etwa das Edith-Stein-Haus in Salzburg, in dem neben dem Katholischen Hochschulwerk das Österreichische Institut für Europäische Rechtspolitik und das Österreichische Institut für Menschenrechte ihren Sitz haben.
Dabei ist Edith Stein weder eine Heilige, die sich für Sonntagsreden eignet noch als dekorative Wohlfühl-Heilige. Ihr Denken war komplex, ihr Lebenszeugnis sperrig. Und doch dadurch auch bleibend aktuell: „Wir leben heute in anderen Zeiten, auch mit großen Verunsicherungen. Europa erlebt den Krieg Russlands gegen die Ukraine, der uns alle tief erschüttert“, schrieb etwa das Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim/Auschwitz, wo Stein am 9. August 1942 von den Nationalsozialisten ermordet wurde, beim Gedenken anlässlich ihres 80. Todestages. „Deshalb wenden wir uns an die Patronin Europas und bitten sie um Hilfe. Mit ihrer Fürsprache wollen wir für Frieden in Europa beten, unsere Berufung in dieser Welt besser verstehen.“
Ein Glücksfall mit tragischer Geschichte
Dass es so weit kommen konnte, dass diese Ordensfrau, die intellektuell nach Wahrheit und Einsicht und mystisch nach Versenkung in das Christus-Geheimnis strebte, zur Heiligen und Schutzpatronin Europas wurde, überrascht im Rückblick um so mehr, als ihr Leben von vielen Kehrtwenden gekennzeichnet war. Und doch muss man dies wohl als Glücksfall einer ansonsten tragischen Geschichte bezeichnen, verbindet Edith Stein bzw. Teresia Benedicta vom Kreuz doch wie keine zweite zeitgemäße Modernität mit tiefer Spiritualität und wacher Zeitzeugenschaft.
Vor 25 Jahren – am 1. Oktober 1999 – erklärte Papst Johannes Paul II. sie gemeinsam mit Katharina von Siena und Birgitta von Schweden zu Patroninnen Europas – und er verband damit die Hoffnung, dass „auf dem Horizont des alten Kontinents ein Banner gegenseitiger Achtung, Toleranz und Gastfreundschaft aufgezogen werden [möge], das Männer und Frauen einlädt, sich über die ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinaus zu verstehen und anzunehmen, um eine wahrhaft geschwisterliche Gemeinschaft zu bilden“. Eine Hoffnung, derer es heute mehr denn je bedarf.
Geboren wurde Edith Stein am 12. Oktober 1891 als elftes Kind in einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Breslau. Sie lernte früh, „dass es wichtiger sei, gut zu sein als klug“, notierte sie später über ihre Kindheit. Ihr Vater starb früh, und ihre Mutter kümmerte sich seitdem um den Holzhandel der Familie. Hochbegabt und sensibel, bezeichnet sich die junge Edith schon mit 14 Jahren selbstbewusst und reflektiert als Atheistin. Nach der Matura studierte sie an der Universität Breslau Germanistik, Geschichte und Philosophie.
Später ging sie zum Phänomenologen Edmund Husserl nach Göttingen, bei dem sie in Freiburg nach Dienst in einem Lazarett im Ersten Weltkrieg 1917 als Assistentin arbeitete und schließlich „summa cum laude“ promovierte. Der Phänomenologie geht es darum, den Ursprung der Erkenntnis nicht in metaphysischen Sätzen zu rekonstruieren, sondern ihn in den Dingen, in ihren unmittelbaren Erscheinungsformen selbst aufzuspüren. Ein damals revolutionäres und anregendes Unternehmen – insbesondere für eine junge Wissenschaftlerin wie Edith Stein, die die Bedingungen des Erkennens genau vermessen wollte, um der Wahrheit, die sie wohl spürte, aber noch nicht intellektuell zu erfassen vermochte, näher zu kommen.
Aus der Krise in die Wahrheit
Während ihrer Doktorarbeit gerät sie jedoch in eine tiefe Sinnkrise: „Ich arbeitete mich in eine richtige Verzweiflung hinein. Das Leben schien mir unerträglich.“ Suizidgedanken quälen sie. Schließlich stand einer Frau – einer so begabten und emanzipierten noch dazu – damals noch keine akademische Karriere, keine Habilitation offen. Vergeblich reichte sie an der Uni Göttingen 1919 eine Habilitationsschrift ein – auch in Breslau und Freiburg wurden ihre Arbeiten nicht angenommen. Das nagte an ihr, gleichwohl befeuerte es auch ihr wissenschaftliches Arbeiten, so dass sie 1936 schließlich ihr Werk „Endliches und ewiges Sein“ abschloss. Veröffentlicht indes wurde es – auch dies ein Teil der Tragik ihres Lebens – erst 1950 und damit acht Jahre nach ihrem Tod.
Ermutigung erfuhr Edith Stein in diesen schwierigen Jahren von Adolf Reinach, einem konvertierten Phänomenologen, der 1917 in Flandern ums Leben kam. In der Begegnung mit der gläubigen Witwe Reinachs spürte sie, dass sich etwas in ihr regte, dass etwas in ihr aufbrach, dessen sie sich kaum mehr erwehren konnte: Gewissheit im Glauben und Berufung.
Später notierte sie dazu: „Mein Unglaube brach zusammen, und Christus strahlte mir auf im Geheimnis des Kreuzes.“ Ein Satz, der in seiner Kürze zugleich Unglaubliches barg, brachte er doch den Wandel von der Atheistin und Jüdin hin zu einer überzeugten Christin in einem Atemzug auf den Punkt. Wie konnte das geschehen? Welche innere Zerrissenheit musste in der jungen Frau geherrscht haben? Ihre äußere Rastlosigkeit – ein Leben und Lehren an verschiedenen Orten in Europa – korrespondierte mit ihrer inneren Rastlosigkeit. Schließlich fiel ihr 1921 die Autobiografie der Reformerin des Karmel, der heiligen Teresa von Avila, in die Hände – und Edith Stein befand mit damals 30 Jahren: „Das ist die Wahrheit.“
Es war dies eine Wahrheit, die sich nicht in der nüchternen philosophischen Analyse, nicht in Ableitungen und metaphysischen Spekulationen finden ließ, sondern die sich ihr im Lebenszeugnis Teresas von Avila zeigte: Die Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Begegnung mit Gott als Gegenüber, als Grund allen Seins und als personales Du zugleich. Dies traf Edith Stein wie ein Blitz. Es wurde der Wendepunkt in ihrem Leben.
Noch am gleichen Morgen, so lautet die wohl ein stückweit ins Legendenhafte hineinragende Erzählung dieser Tage ihres Lebens, kaufte sie einen katholischen Katechismus und ein Schott-Messbuch und besuchte erstmals in ihrem Leben eine heilige Messe. „Nichts blieb mir fremd, dank der vorhergehenden Studien verstand ich auch die kleinste Zeremonie. Ein ehrwürdiger Priestergreis trat zum Altar und feierte das heilige Opfer mit inniger Würde. Nach der heiligen Messe wartete ich, bis der Priester seine Danksagung vollendet hatte. Ich folgte ihm ins Pfarrhaus und bat ihn kurzerhand um die heilige Taufe.“
Widerstand und Ergebung
Am Neujahrstag 1922 wurde sie schließlich getauft und somit Christin. Sie engagierte sich in Folge in der Kirche, unterrichtete in Speyer und Münster, war wissenschaftlich tätig und wurde zu Tagungen und Vorträgen in ganz Europa eingeladen. Es war entsprechend ihrem Bekehrungserlebnis auch nur eine Frage der Zeit, bis Edith Stein schließlich am 14. Oktober 1933 in den Karmel von Köln „Maria vom Frieden“ eintrat. Sie nahm den Namen Teresia Benedicta a Cruce an und legte fünf Jahre später 1938 – dem Jahr der Machtergreifung der Nazis – ihre Gelübde ab.
Diese historische Zäsur bildete die zweite Kehrtwende ihres bewegten Lebens. Denn Edith Stein sah früh, dass der Weg Hitlers ins Verderben führte. Mehrmals versuchte sie, Kirche und Papst zu einer Stellungnahme gegen den Antisemitismus und die nationalsozialistischen Judenpogrome zu veranlassen. Sie schrieb etwa Papst Pius XI. einen Brief, in dem sie den Heiligen Stuhl aufforderte, er möge „gegen die Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt“ und den „Vernichtungskampf gegen das jüdische Blut“ seine Stimme erheben. Vergeblich.
Und so floh sie im Dezember 1938, als sich die Situation für Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich im Zuge der Novemberpogrome weiter zuspitzte, in die Niederlande, wo sie gemeinsam mit ihrer Schwester Rosa im Karmel von Echt lebte. Die Wissenschaft ließ sie selbst dort nicht los und sie schloss ihre letzte Arbeit – die „Kreuzeswissenschaft“, eine Biografie des heiligen Johannes vom Kreuz – ab. Doch der Karmel sollte sie nicht schützen können. Denn mit dem deutschen Überfall auf die Niederlande 1940 und insbesondere nach der Verlesung eines Hirtenbriefes der niederländischen Bischöfe 1942 in den Kirchen sollte sich die Lage für Christen wie Juden noch verschärfen. Die Bischöfe hatten darin die „Not der Juden“ offen angesprochen und erklärt, das Leiden der Juden stehe im Gegensatz zum „tiefsten sittlichen Empfinden“ des niederländischen Volkes.
Die Rache der Besatzer ließ nicht lange auf sich warten – und zeigte sich in Verhaftungswellen, denen am 2. August 1942, nur wenige Tage nach Verlesen des Hirtenbriefes – auch Edith Stein und ihre Schwester zum Opfer fielen. Es gehört wohl zur Tragik ihres Lebens, dass die von ihr kirchlich eingeforderte Offenheit ihr persönlich zum Verhängnis werden sollte. Am 9. August 1942 wurde Edith Stein in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie noch am selben Tag in den Gaskammern starb.
Hoffnung für das Europa des 21. Jahrhunderts
Am 1. Mai 1987 wurde Edith Stein von Johannes Paul II. selig gesprochen. Die Heiligsprechung erfolgte am 11. Oktober 1998. Anlässlich ihrer Erhebung zur Patronin Europas sagte Johannes Paul II. 1999, Edith Stein bilde als Märtyrerin „gleichsam eine Brücke zwischen ihren jüdischen Wurzeln und der Zugehörigkeit zu Christus“. Es ist dieses gemeinsame Erbe, das in Europa auch im 21. Jahrhundert schlummert, ja, das Europa trägt. Oftmals verschüttet, vergessen und verdrängt – und doch subkutan weiterhin präsent. Nicht zuletzt im Gedenken an Edith Stein, die „zum Ausdruck einer menschlichen, kulturellen und religiösen Pilgerschaft geworden [ist], die den tiefen Kern der Tragödie und der Hoffnungen des europäischen Kontinents verkörpert“, so Johannes Paul II.
Henning Klingen
© Foto: Karmel St. Josef und St. Teresa, Innsbruck