Psalmen – Gebete auf dem Weg | Teil 2
Die jüdische Tradition weist die verschiedenen Teile ihrer Heiligen Schrift bestimmten Personen zu. So gilt Mose als der große Gesetzgeber. Er empfängt die Weisung am Sinai und hat sie im Auftrag Gottes dem Volk zu vermitteln. Mose ist die Hauptgestalt in den Büchern Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Salomo werden aufgrund seiner sprichwörtlichen Weisheit (vgl. 1 Kön 3,28; 10,1-13) die Weisheitsbücher zugeschrieben.[i] David hingegen gilt nach der jüdischen Überlieferung als der Verfasser der Psalmen. Zahlreiche Überschriften über den Psalmen weisen diese König David zu. Auf diese Überschriften ist noch näher einzugehen. Zunächst gilt es zu klären, was die beiden Ausdrücke „Psalm“ und „Psalter“ bedeuten.
„Psalm“ und „Psalter“
Die Bezeichnung Psalm geht über das lateinische Wort psalmus auf den griechischen Ausdruck psalmós zurück.[ii] Das diesem zugrundeliegende griechische Verb psállein bedeutet „Saiten zupfen, spielen“. Das daraus gebildete Substantiv psalmós „Saitenspiel“ ist die Übersetzung des hebräischen Wortes mizmôr. Insgesamt 35-mal kommt mizmôr in Psalmenüberschriften vor, in Verbindung mit dem Ausdruck le-dawid „von / für David“. Unter mizmôr ist ein kantillierender Sprechgesang zu verstehen, der von Saiteninstrumenten begleitet wird. Damit wird auf den musikalischen Vortragstil der Psalmen Bezug genommen. Darüber hinaus dürfte der Ausdruck mizmôr auf die Tradition von David als „Sänger“ und „Leierspieler“ aus den Samuelbüchern zurückgreifen. Darauf ist noch einzugehen.
Die Bezeichnung Psalter geht ebenfalls über das latinisierte Wort psalterium auf eine griechische Wortwurzel psaltérion zurück, eine Übersetzung des hebräischen Wortes nebæl „Standleier“. Dieser Ausdruck lässt ebenfalls auf einen musikalischen Vortrag der Psalmen schließen. Zugleich verweist aber auch er auf die in den Geschichtsbüchern bezeugte Überlieferung von David als Leierspieler. In einer Handschrift aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. dient der Ausdruck psaltérion „Psalter“ als Überschrift für das gesamte Psalmenbuch. „Psalm“ bezieht sich meist auf das einzelne Gebet, „Psalter“ auf das gesamte Psalmenbuch oder größere Teile daraus.
David, der Dichter und Leierspieler
Die beiden in der christlichen Überlieferung gebräuchlichen Ausdrücke Psalm und Psalter sind mit der sogenannten Davidisierung des Psalters in Verbindung zu sehen. Mit dem Scheitern des Königtums im babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v. Chr. – der König wurde ins Exil nach Babylon verschleppt – gewann die Gestalt Davids in zunehmenden Maße an Bedeutung. Viele Psalmen, die ursprünglich nichts mit David zu tun hatten, wurden ihm zugeschrieben. Dabei konnte man auf die schon vorliegende Tradition vom „Dichter“ und „Leierspieler“ David zurückgreifen, wie sie sich vor allem in den Samuelbüchern findet. So spielt David die Leier, um Saul in seiner Schwermut aufzuheitern (1 Sam 16,14-23). Ein andermal gerät dieser während des Spiels in Raserei und versucht David zu ermorden (1 Sam 18,10). Als Saul und seine Söhne in der Schlacht gegen die Philister im Gebirge Gilboa fallen, stimmt David die Totenklage an (2 Sam 1,17-27). Die letzten Worte Davids sind ein Danklied für die Wohltaten, die Gott ihm im Laufe seines Lebens erwiesen hat (2 Sam 23,1-7). Diese Überlieferungen haben sicherlich dazu beigetragen, das Profil Davids als Dichter und Sänger zu schärfen und ihm mehr und mehr Psalmen zuzuschreiben.
Die Überschriften der Psalmen und die Davidisierung
In 73 Psalmen des hebräischen Alten Testaments und in 83 Psalmen der jüngeren griechischen Textfassung (Septuaginta) steht die Überschrift le-dawid. Die Präposition le kann entweder als Verfasserangabe dienen („von David“) oder als Zuweisung zu einer Psalmengruppe („für David“), etwa zu den Davidpsalmen, verstanden werden. In 13 Psalmen ist die Angabe le-dawid durch weitere Hinweise aus dem Leben Davids ergänzt. Dabei greifen die Verfasser auf Begebenheiten im Leben Davids zurück. David erscheint dadurch als Psalmenbeter, der im Auf und Ab seines Lebens die unterschiedlichen Situationen mit Gott ins Gespräch bringt. Erfahrungen von Not und Verfolgung, von Versagen und Schuld, von Gottferne und neuem Anfang werden betend durchlebt. Die Psalmen präsentieren sich gleichsam als Gebete Davids auf seinem Lebensweg – mit allen Höhen und Tiefen, Rissen und Abgründen, begangener Schuld und erfahrener göttlicher Vergebung.
So greift die Überschrift von Psalm 51 – dem bekannten Miserere – auf Davids Vergehen aus 2 Sam 11f zurück: „Als der Prophet Natan zu ihm kann, nachdem er zu Batseba gegangen war.“ David war in die Ehe Batsebas eingebrochen und hatte veranlasst, um nicht wegen Ehebruchs verurteilt zu werden, dass Batsebas Mann Urija in der Schlacht getötet wurde. Der Prophet Natan deckt die schwere Schuld Davids schonungslos auf. Mit der Bitte um Gottes Erbarmen (Miserere) beginnt David seinen Weg der Reue und Umkehr.
Psalm 52 nimmt auf die Begebenheit aus 1 Sam 22,9-19 Bezug: Der Priester Ahimelech hatte David Unterschlupf gewährt, um ihn vor König Saul zu schützen. Nach 1 Sam 22,1 verbirgt sich David vor dem Verfolger Saul in einer Höhle. Psalm 57,1 greift diese Notlage auf und zeigt den verfolgten David als Beter, der sein Vertrauen auf Gott setzt. Auf der Flucht vor Saul zieht sich David in die Wüste zurück (1 Sam 23,14). Die Trockenheit der Wüste, Hitze und Durst werden in Psalm 63 (V 1: „Ein Psalm Davids, als er in der Wüste Juda war“) zum Gebet: „Gott, mein Gott bist du, dich suche ich, es dürstet nach dir meine Seele. Nach dir schmachtet mein Fleisch, wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser“ (V 2).
Mit David die Psalmen beten
Durch diese Überschriften erhalten Szenen aus dem Leben Davids beispielhafte Bedeutung für die Kinder Israels. So wird David im Laufe der Zeit zum Typus und Vorbild des betenden Gottesvolkes. Davids Vorbildhaftigkeit besteht nicht in seiner moralischen Vollkommenheit. Seine Vergehen werden ausdrücklich beim Namen genannt. Vorbild ist David insofern, als er sein ganzes Leben, Licht und Schatten, immer wieder Gott anheimgibt. So kann Gott verändernd in sein Leben eingreifen. David wird im Laufe der alttestamentlichen Überlieferung und im späteren Judentum zu einer Identifikationsfigur. Er ist der Knecht Gottes, der verfolgt und bedrängt wurde, der von Feinden umgeben war, der schwere Schuld auf sich geladen hatte … und der in allem Auf und Ab sein Vertrauen auf Gott setzte. In ihm, dem Knecht Gottes, finden die Frauen und Männer in Israel und das ganze Gottesvolk sich selbst wieder, da sie die Stürme der Verfolgung über die Jahrhunderte hin über sich haben ergehen lassen müssen.
Dem kommenden David betend entgegengehen
Mit dem Scheitern der Könige Israels und dem Untergang des Staates Juda in der Zeit des babylonischen Exils schien auch das Ende der davidischen Dynastie gekommen. Wo blieben die großen Verheißungen, die David einst erhalten hatte? Sein Haus und sein Königtum sollten auf ewig Bestand haben (vgl. 2 Sam 7,16; Ps 89,4f.37f). Waren die Verheißungen bedeutungslos geworden, waren sie nur Trug (vgl. Ps 89,50-52)? In dieser Zeit der Krise und Zusammenbrüche brechen die Sehnsucht und die Hoffnung nach einem neuen, einem kommenden David auf: nach einer messianischen Zeit und einem messianischen Volk. Prophetische Texte wie Jer 23,5f; Ez 34,23f und 37,24f und Texte aus dem Jesajabuch (Jes 7,10-14; 9,1-6 und 11,1-11) geben dieser Hoffnung auf einen kommenden Gesalbten, auf einen kommenden Messias und eine Zeit der Gerechtigkeit und des Friedens Ausdruck. Die Psalmen beten bedeutet deshalb für die Kinder Israels: betend mit den Psalmen Davids der kommenden Heilszeit entgegengehen.
Mit Jesus, dem Sohn Davids und dem Sohn Gottes die Psalmen beten
Das Neue Testament greift diese Erwartung auf einen kommenden Gesalbten auf, wenn es von Jesus als dem Sohn Davids spricht.[iii] Jesus selbst hat die Psalmen Davids gebetet (vgl. Mt 27,46 und Mk 15,34; Lk 23,46) und auf sie Bezug genommen (vgl. Lk 20,42; Joh 10,34). Die Frauen und Männer in seiner Nachfolge sehen in Jesus diesen verheißenen Gesalbten, den Messias, der als Friedensfürst eine Zeit der Gerechtigkeit und des Friedens herbeiführen und die Menschen mit Gott und untereinander versöhnen wird. In diesem Zusammenhang sind die Psalmen Davids neu zu lesen: mit Jesus, dem Sohn Davids und dem Sohn Gottes. Wer die Psalmen mit ihm betet, wächst mit ihm, dem auferstandenen Herrn, der Heilszeit entgegen, die Gott seinem Volk bereitet hat. Er tritt mit Jesus und im Geiste Jesu ein in den Beziehungsraum des Heils, der in eine radikale Gotteskindschaft hineinführt.
Prof. Dr. Franz Sedlmeier, Universität Augsburg
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Die Psalmen als Lobgesänge Israels (Tehillim)
[i] Vgl. Spr 1,1: „Sprichwörter Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel“; Koh 1,1: „Worte Kohelets, des Davidsohnes, der König in Jerusalem war.“ Hld 1,1: „Das Hohelied Salomos“.
[ii] Die griechische Bezeichnung psalmós taucht im Neuen Testament mehrfach auf, vor allem beim Evangelisten Lukas. So beim Streitgespräch Jesu mit den Schriftgelehrten (Lk 20,42), in den letzten Worten Jesu vor seiner Rückkehr zum Vater (Lk 24,44) und bei der Wahl des Matthias (Apg 1,20).
Lukas 24,44-49
44 Dann sagte er zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesprochen habe, als ich noch bei euch war: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht. 45 Darauf öffnete er ihren Sinn für das Verständnis der Schriften. 46 Er sagte zu ihnen: So steht es geschrieben: Der Christus wird leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen 47 und in seinem Namen wird man allen Völkern Umkehr verkünden, damit ihre Sünden vergeben werden. Angefangen in Jerusalem, 48 seid ihr Zeugen dafür. 49 Und siehe, ich werde die Verheißung meines Vaters auf euch herabsenden. Ihr aber bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet!
[iii] Das Neue Testament betont, dass Jesus aus dem Haus David stammt. Als der Engel Gabriel die Geburt Jesu ankündigt, war Maria verlobt mit Josef, „der aus dem Haus David stammte“ (Lk 1,27). Der göttliche Bote teilt ihr mit, sie werde die Mutter Jesu sein. Er sagt über Jesus: „Der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben” (Lk 1,32). Die beiden Blinden, die Jesus nachfolgten, schrien und sprachen (vgl. Mt 9,27): „Erbarme dich unser, Sohn Davids!“ Über den Einzug Jesu in Jerusalem am Palmsonntag weiß Matthäus zu berichten (Mt 21,9): „Die Leute aber, die vor ihm hergingen und die ihm nachfolgten, riefen: Hosanna dem Sohn Davids!“