Das Buch
Seit die Menschen schreiben können, haben sie insbesondere ihre Erfahrungen mit Gott der Schriftrolle, dem Buch anvertraut. Buch und Schriftrolle wurden so zur Heiligen Schrift. Ihr Wort ist das „andere Brot“, denn der Mensch lebt, wie Jesus gesagt hat, nicht allein vom irdischen Brot, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht.
Mit dem Behältnis dieses Wortes, mit dem Buch, sind die Christen von jeher behutsam umgegangen. Die Akten der Martyrer erzählen von Christen, die lieber den Tod erlitten, als dem heidnischen Richter die Heiligen Schriften zur Zerstörung auszuliefern. Als heiligstes Buch gilt das Evangelium, das in den vier Einzelevangelien gleichsam Christus selbst repräsentiert. Christus selbst spricht in ihm zu uns. Die Liturgie umgibt daher das Evangelienbuch mit feierlichen Zeremonien. Es wird von Akolythen, die brennende Kerzen tragen, begleitet, durch Weihrauch geehrt und stehend angehört. Seine feierliche Verkündigung ist dem Priester oder dem Diakon vorbehalten. Dem Diakon wird dieses Buch bei seiner Weihe als Amtsinsignie überreicht.
Bei der feierlichen Weihe einer neuen Kirche empfängt der Bischof durch den Diakon das Evangelienbuch und ruft: „Das Wort Gottes erfülle dieses Haus.“ Bei der Weihe eines Bischofs wird dem neuen Nachfolger der Apostel das geöffnete Evangelienbuch auf Haupt und Schultern gelegt. Das bedeutet die Gnade und die Last, das Evangelium zu verkünden, sei es gelegen oder ungelegen. Und während der kirchlichen Konzilien und Synoden war und ist es Brauch, das geöffnete Evangelienbuch auf einen Thron zu stellen. Das Wort Christi, ja Christus selbst, soll richten, was hier von Menschen unter Berufung auf ihn gesagt, gelehrt wird. So geschah es auch bei den jüngsten Konzilien im Vatikan.
Von schnell lesenden Menschen sagt man, sie verschlängen die Bücher. Der Prophet Ezechiel wurde, wie die Bibel berichtet, von Gott angewiesen, eine auf beiden Seiten beschriebene Buchrolle zu verschlingen. Dies sollte ausdrücken, dass er diese Worte in sein Herz aufnahm. Das Wort Gottes will zu Herzen gehen. Nicht allein der Mund redet da zum Ohr, sondern das Herz spricht zum Herzen.
In den Bibliotheken und Sakristeien alter Klöster und Dome sind Evangelienbücher, Bibeln und Messbücher geborgen, die durch kunstvolle Schrift wie auch durch großartige Buchmalereien und Einbände hervorragen. Besondere Mühe gab man sich um die Ausschmückung der Anfangsbuchstaben und Anfangsworte der vier Evangelien und des Anfangs des Hochgebetes (Kanon) im Messbuch. In der Zeit nach dem jüngsten Konzil wurden die schönen alten Bücher, teilweise notgedrungen, teilweise auch aus Gedankenlosigkeit, durch Hefte und Zettel ersetzt. Der Altar und das Lespult wurden zum Untersatz einer Kollektion solcher Hefte und Zettel degradiert. Langsam wird wieder bewusst, dass dies den Verzicht auf das kostbare Symbol des Buches und so einen großen Verlust bedeutet. Das Christentum ist ja eine Buchreligion. Neueste Ausgaben von Bibeln, Lektionaren und Messbüchern versuchen wieder, durch die Schönheit des Drucksatzes und sorgfältige Ausstattung etwas von der frommen Mühe mittelalterlicher Schreiber und neuzeitlicher Drucker in heutige Verhältnisse zu übersetzen.
Bischof Egon Kapellari
entnommen aus: Heilige Zeichen, Styria