Paulus – Informationen zu Person und Theologie des Apostels | Teil 1
Die Quellen unserer Paulus-Erkenntnis
Zwei Quellen stehen uns zur Verfügung, wenn wir versuchen, uns ein Bild von Paulus zu machen, von seiner Person, seinem Wirken und Denken: Die erste und wichtigste Quelle sind die Briefe, die Paulus geschrieben hat: nach Thessaloniki und Korinth, nach Galatien und Philippi; dazu kommt noch der Brief an Philemon und als letzter der Brief an die Gemeinden in Rom, die Paulus auf dem Weg nach Spanien besuchen wollte. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass wir in den genannten Briefen dem Menschen Paulus „im Originalton“ begegnen.
Die Paulusbriefe sind also ihrer Gattung nach „Briefe“. Cicero, selbst einer der fruchtbarsten Briefschreiber des ganzen Altertums, definiert den Brief als „ein Gespräch mit dem Empfänger in einer Zeit der räumlichen Trennung und über diese Trennung hinweg“. Die schmerzlich empfundene Abwesenheit ist im Moment des Briefempfangs überwunden. Infolge seines Engagements erfahren wir in den Briefen des Apostels Paulus oft ganz nebenbei wichtige Informationen über ihn selbst – zum Beispiel, dass er sich nur von den Philippern unterstützen ließ. Die Briefe des Apostels eröffnen uns auch einen Zugang zum Menschen Paulus.
Die zweite Quelle unserer Kenntnis von Paulus ist die Apostelgeschichte, handelt sie doch gut zur Hälfte vom Leben und Wirken des Saulus Paulus. Allerdings dürfen wir nie außer acht lassen, dass Lukas mit seiner Darstellung vom Leben und Wirken des Völkerapostels immer auch eine ganz bestimmte Absicht verfolgte (vgl. Lk 1,1–4; Apg 1,1f); er bietet also neben den historischen Informationen über das Leben des Paulus vor allem theologische Hintergrundinformationen. Natürlich konnte Lukas auch bei der Abfassung der Apostelgeschichte auf eine Reihe schriftlicher Quellen zurückgreifen; vor allem aber dürfte ihm für die Kapitel 13 bis 21 unter anderem eine Art „Reisetagebuch“ von den Reisen des Apostels Paulus zur Verfügung gestanden haben.
Aus diesem Grund werden wir in der Regel den Aussagen des Apostels Paulus mehr vertrauen, wenn wir zwischen seinen Angaben und der Schilderung der Apostelgeschichte gewisse Spannungen oder gar Widersprüche entdecken sollten. Ein Blick in die Forschungsgeschichte zeigt in einem Vergleich von ca. 30 wissenschaftlichen Büchern beim Blick auf die Daten des Apostelkonzils, des ersten Aufenthalts des Paulus in Korinth und des Prokuratorenwechsels (Felix/Festus) teilweise Unterschiede von über 15 Jahren! Wenn anerkannte Fachleute unter Berufung auf dieselbe (objektive) historische Methode zu derart gravierend von einander abweichenden Ergebnissen kommen, dann stellen sich folgende Fragen: Ist die Methode falsch? Oder überfordert durch die falschen Fragen?
Die eine Richtung der Forschung bezweifelt die Brauchbarkeit der Apostelgeschichte für eine mögliche historische Rekonstruktion, die andere bemüht sich, das Ansehen des Lukas als Historiker aufrecht zu erhalten und die diesbezüglichen Angaben mit denen des Paulus zu harmonisieren. Diesbezüglich ist gerade in den letzten Jahrzehnten in Zusammenarbeit mit Alt-Historikern ein wesentlich positiveres Bild von Lukas als antiker Geschichtsschreiber entwickelt worden.
Paulus – ein Jude aus Tarsus: Die Herkunft des Paulus
Auch wenn Paulus seine Heimatstadt in seinen Briefen nie erwähnte, haben wir keinen Grund, an der Angabe aus der Apostelgeschichte: „Ich bin ein Jude aus Tarsus” (Apg 21,39) zu zweifeln. Tarsus war zur Zeit des Paulus eine hellenistische Großstadt mit großer wirtschaftlicher Bedeutung: Einerseits gab es eine Verbindung zum Meer, andererseits bildete Tarsus am Fuß des Taurusgebirges eine wichtige Station auf der Handelsstraße, die vom syrischen Antiochia zur ägäischen Küste Kleinasiens und den dortigen griechischen Städten führte. Und schließlich war Tarsus auch noch der Ausgangspunkt der Handelsroute, die das Mittelmeer mit dem Schwarzen Meer und von dort aus weiter nach Asien verband.
Darüber hinaus profitierte Tarsus noch von der Fruchtbarkeit der zilizischen Ebene, in der vor allem auch Flachs gedieh, das Rohmaterial für die „Großindustrie“ dieser Region: die Leinenweberei, deren Zentrum Tarsus war. Unter Pompeius (106–48 v. Chr.) wurde Tarsus Amtssitz des römischen Statthalters der Provinz Zilizien, und so konnte sich hier mit ca. 300.000 Einwohnern ein äußerst reges Leben entfalten.
Wir können also folgendes über die Herkunft des Apostels Paulus festhalten:
Paulus wurde in Tarsus geboren, wohl zwischen 1 und 5 n. Chr. Er kommt im Philipperbrief auf sein Elternhaus und im Galaterbrief auf seine Jugend zu sprechen. Hier betont Paulus: „Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus Israels Geschlecht, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern …” (Phil 3,5). Und im Blick auf seine Jugend stellt er fest: „Im Judentum machte ich größere Fortschritte als die meisten Altersgenossen in meinem Volk und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein“ (Gal 1,14). Lernte Paulus den Beruf seines Vaters, so übte dieser den Beruf eines Zeltmachers (vgl. Apg 18,3) aus – einen Beruf, für den gerade Tarsus der richtige Ort war; denn die allermeisten „Zelte“ (NB: = Sonnschutz-Segel, d. h. Markisen!) für den privaten wie für den öffentlichen Gebrauch wurden aus Leinen hergestellt. Dieser Beruf musste den Vater des Paulus aber in häufigen Kontakt mit den Heiden gebracht haben – was den Rückschluss erlaubt, dass das Elternhaus des Apostels bei aller Treue zum eigenen Glauben keineswegs weltabgewandt und weltfremd, sondern durchaus willens war, die positiven Möglichkeiten wahrzunehmen, die ihnen das Leben unter den Heiden bot. Dafür spricht auch: Nach der Apostelgeschichte trug Paulus einen Doppelnamen: Saulus Paulus (vgl. Apg 13,9). Dies bedeutet aber: Die Eltern des Apostels hatten ihrem Sohn nicht nur den Namen des Berühmtesten ihres Stammes, des Königs Saul, sondern auch einen ähnlich klingenden heidnischen Namen gegeben. Er sollte in der Welt, in der er zu leben hatte, nicht von vornherein als Fremdling auffallen, sondern ganz selbstverständlich und unauffällig ansprechbar sein – wozu dann freilich auch das Gegenteil gehörte: Er musste sich in der Sprache beider Welten, in denen er aufwuchs, auch ausdrücken können. Und so lernte Paulus von Kindheit an Aramäisch, Hebräisch und Griechisch.
Auf der Grundlage vieler Vorlesungs- und Vortragstätigkeiten und unter Zuhilfenahme vieler einschlägiger Bücher zusammengestellt, z. B.: Berger K., Paulus; Bornkamm G., Paulus; Conzelmann H. / Lindemann A., Arbeitsbuch; Gnilka, Paulus; Hengel M., Geschichtsschreibung; Jewett R., Chronologie; Limbeck M., Paulus; Lüdemann G., Paulus; Pesch R., Apg; Schelkle K.-H., Paulus; Schneider G., Apg; Suhl A., Paulus; Weiss A, Soziale Elite; Wolters M., Paulus.
Univ.-Prof. Dr. Michael Ernst,
Universität Salzburg und Päpstliche Hochschule Heiligenkreuz