Der Schmerzensmann im Dom zu Wiener Neustadt
Mein Lieblingsplatz im Dom ist vor unserem Schmerzensmann. In nunmehr über zwei Jahren ist mir der Blick auf ihn immer kostbarer geworden. Inzwischen habe ich das Bildnis schon derart verinnerlicht, dass ich es mir jederzeit vor meinem inneren Auge erscheinen lassen kann. Und doch erscheint es mir immer wieder neu, wenn ich es in natura betrachte. Und je länger ich es anschaue, desto lebendiger erscheint es mir.
In diesem Jahr habe ich unseren Schmerzensmann immer und immer wieder betrachtet – in Gedanken und in der Wirklichkeit. So viel Leid in der Welt. Die einzige Antwort, die Gott uns darauf gibt, ist die, dass er selbst gelitten hat. Er ist dazu Mensch geworden. Aber hätte mit seinem Leiden nicht alles Leid ein Ende haben können? Die Überlegung könnte stimmen, wenn das Leiden Christi nur zu unserer Entsühnung, zu unserem Herauslösen aus dem Verfängnis der Sünde gedient hätte.
Sie ist aber viel mehr. Sie ist Zeichen, ja lebendiger, wahrhaftiger Ausdruck der Liebe Gottes zu uns. Und diese Liebe ist eben auch schmerzhaft – wie es jede Liebe zu Menschen ist. In der Ewigkeit Gottes ist alles unmittelbare Gegenwart. Daher ist auch der Kreuzestod Jesu, an dem der Vater und der Geist mitleiden („Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist“), ewige Gegenwart – in die wir uns in jeder Messfeier hineinbegeben.
Gott ist die Liebe. Er liebt die ganze Welt und er liebt vor allem uns Menschen – vorbehaltlos und unbedingt. Es ist nicht der Herz-Schmerz der intensiven Verliebtheit, der aus unserem Schmerzensmann spricht. Es ist die unendliche Güte, die aus seinen Augen strömt – und bei längerer Betrachtung aus seinem ganzen Wesen strahlt. Die Güte in all dem Leid, das hier auch zum Ausdruck kommt, ist uns direkt zugewandt – in all unseren Ängsten, Nöten und Schmerzen, aber auch in all unserer Freude, unserem Glück und unserer Seligkeit.
Unser Schmerzensmann ist ja der Auferstandene – die offenen Augen beweisen es. Es ist nicht der tote Jesus im Schoß seiner Mutter – Ausdruck des höchsten Leides. Es ist aber auch nicht der triumphal aus dem Grab Auferstehende. Beides berichtet uns nicht die Heilige Schrift, ist aber in der frommen Betrachtung immer wieder von Künstlern dargestellt worden. Doch berührt uns die Darstellung der Pieta doch viel mehr als die glorreiche Auferstehung. Warum? Weil wir das Leid besser nachempfinden können als den Sieg über den Tod? Ich glaube, dass die unfassbare Liebe darin deutlicher zum Ausdruck kommt.
Ein Erstkommunionkind hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass der Auferstandene ja keine Dornenkrone mehr tragen dürfte. Das ist eine ganz richtige Beobachtung. Als Auferstandener hat Jesus Christus zwar noch die Wundmale an seinen Händen und Füßen und in seiner Seite – als ewiges Zeichen seiner Hingabe, die nicht ausgelöscht ist, sondern sogar in den Himmel aufgenommen wird.
Es ist das aber nicht ein ständiger mahnender Hinweis – „Seht her, was ihr mir angetan habt...“. Es ist vielmehr einladender Hinweis – „Seht her, wie ich euch liebe...“. In etwas hilflosen Kunstwerken strahlt uns ja dieses Licht seiner Liebe aus dem geöffneten Herzen entgegen. Mir will es scheinen, dass diese Liebe bei der Betrachtung unseres Schmerzensmannes viel eindringlicher unser Herz berührt.
Wir können ihm all unsere Ängste und Sorgen in den Krisen unserer Zeit, aber auch all unser Glück und unsere Freude anvertrauen, ja schenken.
Franz Xaver Brandmayr,
Dompropst in Wiener Neustadt,
Pfarrblatt Herbst 2022