Paulus – Informationen zu Person und Theologie des Apostels | Teil 4
Paulus – ein Lehrer fürs Christsein
„Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2 Kor 5,17)
Wenn wir von Paulus lernen wollen, was es heißt, als Christ zu leben, sollten wir nie vergessen, weshalb Paulus Christ geworden war. Er war nicht Christ geworden, weil er mit seinem „alten” Glauben unglücklich gewesen und deshalb auf der Suche nach etwas Besserem gewesen wäre. Der Glaube seiner Väter hatte seinem Leben Sinn und Begeisterung gegeben. Da gab es keinen Grund, die Seiten zu wechseln! Nein, Paulus wurde Christ, weil ihm die Einsicht geschenkt worden war, dass inmitten unserer Welt etwas Neues geworden ist:
Als Gott den gekreuzigten Jesus von Nazaret aus dem Tod auferweckte, begann eine neue Schöpfung. Und am Beginn dieser Neuschöpfung steht als zweiter Adam der Mensch Jesus, der für uns starb (vgl. 1 Kor 15,3) – der also bis zuletzt von dem Willen beseelt war, uns nicht an den Folgen unserer Sünden zugrunde gehen zu lassen.
Das erkannte Paulus „durch Offenbarung“ (vgl. Gal 1,12.16). Wie hätte er da auf seinem alten Standpunkt verharren können? Und so wurde Paulus Christ, weil er Gott traute, dass er uns Menschen in dem auferweckten gekreuzigten Jesus den Grund für ein neues Leben anbietet, das heißt für ein Leben, über das die Mächte des Todes keine Gewalt mehr haben.
Der alte und der neue Mensch
Damit wir die Tragweite der dem Apostel geschenkten Einsicht ermessen können – die zum Grund seines Christseins wurde! –, müssen wir uns wenigstens in Kürze darüber klar werden, wie Paulus das „alte“, das heißt noch nicht „getaufte” Leben des Menschen verstanden hat.
Der „alte” Mensch ist auch nach Paulus nicht einfach böse. Der einzelne kann das Gute ja nicht nur erkennen, wollen und tun – er tut es auch (vgl. Phil 3,6; Röm 2,7.10.14). Trotzdem war Paulus überzeugt, dass der Mensch so, wie er in dieser Welt vorkommt, unfähig ist, dauerhaftes Leben zu wirken und zu erlangen. Weshalb? Weil wir Menschen derart unfrei sind – Paulus bezeichnet uns geradezu als „Sklaven der Sünde” (vgl. Röm 6,17.20) –, dass wir uns auch gegen unseren Willen immer wieder lebensfeindlich verhalten, bis wir zuletzt unser Leben selbst verlieren – nach einem Leben, für das wir von Gott keine billigende Annahme erwarten können.
Wer soll uns aber dann der Macht des Todes entreißen? So wenig der „alte” Mensch einfach böse ist, so wenig ist der „neue” Mensch ganz neu: Das „Ich” des alten Menschen ist auch das „Ich” des neuen Menschen; denn dieser ist auch für Paulus im Grunde nichts anderes als der durch den Tod hindurch gerettete, den Mächten des Todes entrissene „alte” Mensch. Das gilt für jeden Menschen – auch für Jesus. In dieser Hinsicht gibt es zwischen ihm und allen übrigen Menschen keinen Unterschied (vgl. 1 Kor 15,12–20; Gal 1,1; 1 Thess 1,10). Als Gott ihm aber aufs neue das Leben schenkte – „am dritten Tag ... gemäß der Schrift” (1 Kor 15,4) –, da räumte Gott Jesus den Platz ein, der ihm aufgrund seines Sterbens zustand, in dem er ja bis zuletzt allen feindlichen Mächten widerstanden und sie so besiegt hatte:
Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters. (Phil 2,9–11)
Als Gott Jesus von den Toten auferweckte, stattete er ihn mit solcher Macht aus, dass es von nun an einen gibt, der mit seinem neuen Leben – als der neue Mensch – allen übrigen Mächten und Gewalten überlegen ist, die uns in der „alten” Schöpfung gefangen halten.
Doch, so mögen wir jetzt vielleicht fragen, weshalb kann diese Tatsache für uns, die wir ja noch immer in unserer Welt leben, wirklich von Bedeutung sein? Wir verstehen dies wohl eher, wenn wir bedacht haben, wie Paulus Jesus gesehen und verstanden hat.
In Jesus (und nicht in der Tora) hat uns Gott – wenn man so sagen darf – das von sich geschenkt, was er von seinem eigenen Wesen in unsere Welt „einbringen” kann. Jesus von Nazaret war und ist nicht nur ein besonderes Geschöpf Gottes, sondern er verkörpert zugleich jene göttliche Zuneigung und jenen göttlichen Heilswillen, wovon bislang alle Verheißungen der Propheten sprachen (2 Kor 1,19f).
Das ist der Grund, weshalb es auch für uns von Bedeutung ist, dass Gott Jesus als dem neuen Menschen eine derartige Position in der gesamten Schöpfung verliehen hat, dass er allen übrigen Mächten überlegen ist. Denn dadurch ist das Leben, das von dem Sohn Gottes ausgeht, nicht nur mächtiger als alle Kräfte, die uns in unserer Welt immer noch gefangen halten. Dadurch ist dieses neue Leben auch unerschöpflich und unbegrenzt. Doch wie kommen wir – und alle anderen Menschen – mit dieser Kraft heute in Kontakt?
Darauf antwortet Paulus mit seiner „Lehre vom Evangelium“.
Das Evangelium als Gottes Kraft
Das Evangelium ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, aber ebenso für den Griechen. Denn in ihm wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben. (Röm 1,16f)
Freilich, das Evangelium war für Paulus „das Wort vom Kreuz“, die Verkündigung von Jesus Christus als dem Gekreuzigten:
Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit … (1 Kor 1,22–23)
Das Kreuz war für ihn das eindeutigste Zeugnis dafür, dass Gott uns in ganz ungewöhnlicher Weise liebt:
Dabei wird nur schwerlich jemand für einen Gerechten sterben; vielleicht wird er jedoch für einen guten Menschen sein Leben wagen. Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. (Röm 5,7f)
Diese damals am Kreuz dokumentierte Liebe Gottes ist aber auch heute noch lebendig: in Jesus Christus, dem Gekreuzigten. Nicht ohne Absicht bezeichnet Paulus den „Herrn Jesus Christus” nie als den „Auferstandenen”, sondern immer nur als den „Gekreuzigten”. Freilich, der Gekreuzigte ist unseren Blicken entnommen. Deshalb ist das Evangelium so lebenswichtig, weil wir allein dadurch Kunde von unserem Retter erhalten. Deshalb ist das Evangelium aber auch Gottes rettende Kraft, weil es uns aus unserem „alten” Leben herausreißen könnte. Denn dort, wo das Evangelium laut wird, erhalten wir die Möglichkeit, über den Raum dieser sichtbaren Welt hinaus die Hand dieses Jesus zu erfassen, der die Macht hat, unser Leben schon heute – und nicht erst nach unserem Tod – aus einer neuen, unbesiegbaren Kraftquelle zu speisen.
Univ.-Prof. Dr. Michael Ernst,
Universität Salzburg und Päpstliche Hochschule Heiligenkreuz