Der Mensch ist auf Orientierung angewiesen
Identität und Orientierung sind ihm abhandengekommen. Er weiß nicht mehr, wer er ist und was er tun soll. „Sollen“ hat, wie Pflicht, heute einen etwas altmodischen Klang. Es scheint im Gegensatz zu stehen zum hohen Wert der Freiheit. Doch gerade das Gegenteil ist der Fall. Würde jemand morgens aufwachen, ohne zu wissen, was er heute tun soll, wäre er gänzlich unfähig, den Tag zu leben und zu gestalten. Das Gleiche gilt für das gesamte menschliche Leben.
Diese ethische Differenz, nämlich der Unterschied zwischen dem, was ist und dem, was sein soll, ist bei näherer Betrachtung eine höchst verwunderliche, spezifisch menschliche Eigenschaft. Menschen sind in den meisten Lebensfragen darauf angewiesen, sich bewusst zu entscheiden. Dafür braucht es die Orientierung auf Ziele hin. Das gilt für ganz alltägliche Handlungen wie für große Lebensentscheidungen. Das stellt uns immer wieder vor Sinnfragen. Ich arbeite und verdiene Geld: aber wozu? Um mich und andere zu ernähren, soziale Kontakte zu erleben und letztlich meinen Lebenssinn zu verwirklichen.
Aber wozu? Es sind diese Ziele und Orientierungen, die für viele Menschen durch die Coronakrise unsicher geworden sind. In einer Zeit, in der Fortschrittsglaube und Machbarkeitsansprüche brüchig werden und rasche Besserungen nicht zu erwarten sind, entsteht so ein Gefühl kollektiver Orientierungslosigkeit. Es gilt das nicht oder nur begrenzt Machbare zu ertragen. Der Umgang mit Krankheit, Tod, mangelnder Planbarkeit und Unsicherheit gehört jedoch nicht zum Programm der Moderne. Menschen werden in diesen existentiellen Fragen weitgehend allein gelassen.
Das hat sehr konkrete Folgen: Depressionen haben in der Pandemie um 40 Prozent zugenommen, Suizidgedanken, vor allem bei Jugendlichen, haben stark zugenommen, wirre Ideen und Verschwörungstheorien als Pseudo-Erklärungen haben Hochkonjunktur (leider auch in der Kirche). Politisch führt das zu einer nicht ungefährlichen Suche nach Schuldigen. Von Friedrich Nietzsche stammt ursprünglich der Gedanke, dass wer ein Lebensziel hat, die Lebensumstände besser ertragen kann. „Wer ein Warum des Lebens hat, erträgt fast jedes Wie“ wurde zum Programm des berühmten Psychoanalytikers Viktor Frankl.1
Als eine der größten Gefahren heute erscheint demnach der Verlust an Orientierungen und die damit einhergehende Mutlosigkeit. Es ist das Gefühl, wenn man bei einer Wanderung, im Nebel oder in einer unbekannten Stadt die Orientierung verliert und im Kreis geht. Die Kräfte schwinden und man weiß nicht mehr, wie man sie am besten einsetzen und aus dieser panikerzeugenden Lage herauskommen soll.
Was aber gibt dem Leben Orientierung? Das Wort selbst kommt von „Orient“. Sich zu orientieren bedeutet ursprünglich, die Himmelsrichtung nach der aufgehenden Sonne zu bestimmen. Die meisten frühchristlichen und mittelalterlichen Kirchen sind deshalb nach Osten orientiert (Ostung), wobei dies auch die Richtung der Auferstehung ist.2
Unsere Gesellschaften sind um vieles pluraler geworden. Ein derartiger Pluralismus kann positiv und in religiöser, wie ethnischer und geistiger Hinsicht bereichernd sein. Ein Zwang zur Einheitlichkeit, wonach alle demselben Schema folgen müssen, ist weder kreativ noch menschlich. Doch es gibt auch das andere Extrem eines Mangels an Orientierung. Man steht dann vor einer Vielzahl von Wegweisern, die in unterschiedliche Richtungen weisen, hat aber keine Kriterien mehr, um zu entscheiden, was zum gewünschten Ziel führt.
Das macht Entscheidungen im Alltag wie im Leben als Ganzem schlicht unmöglich und letztlich willkürlich. Wie irritierend sich das auswirkt, wurde mir klar, als ich auf einer Autobahn fuhr, auf der wegen Bauarbeiten mehrere Leitlinien da waren. Ein derartiger Mangel an einer klaren Orientierung, so habe ich festgestellt, nervt, ja macht aggressiv. Das lässt sich auf die Gesellschaft übertragen. Die Freiheiten, die wir genießen, sind nur solange eine gute Sache, als Orientierungen vorhanden sind.
In dieser Situation ist eine wichtige Aufgabe, vielleicht die wichtigste, von Christen und Christinnen, Orientierungen in den verschiedensten Lebensbereichen zu vermitteln. Das ist keineswegs einfach. Standardformeln oder gar Floskeln, sei es in der Moral oder im Glauben, stoßen eher ab und sind jedenfalls wenig hilfreich.
Das Gute wie das Wahre müssen in jeder Zeit neu entdeckt, ja für jeden Menschen neu ausbuchstabiert werden. Dabei ist davon auszugehen, dass Menschen sich weiterhin am Guten orientieren (oft vermischt mit anderen Motiven). Sie wollen das Beste für sich, wie für andere, nah aber auch fern, und für die Umwelt.
Eine derartige Orientierung ist keineswegs selbstverständlich. Das Gute, das uns vorschwebt, ist nicht zuletzt das Echo einer langen christlichen Geschichte von Orientierungswissen aus dem Evangelium und dem christlichen Glauben. Dieses lebendig zu halten ist die Herausforderung: Durch die Art wie wir sind und handeln, die ja immer Vorbild (im Guten, wie im Schlechten) ist, durch den Einsatz in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft, der Menschen zu verantwortlichen, ihrer Identität und Orientierung sicheren Personen machen soll und last but not least durch wohl überlegte Worte der Orientierung und durch das Gebet für all dies in Hinwendung zu Christus, der in der frühchristlichen Literatur hoffnungsvoll Oriens orientium universum obtinet (Der Aufgang aller Aufgänge steht über dem All) genannt wird.3
Ich möchte mit einem Wort aus dem Römerbrief des Apostels Paulus schließen: „Bedrängnis (Schwierigkeit/Widerfahrnisse) bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Römer 5,3-5).
Ein Motto zur Orientierung in eben dieser Zeit.
Dr. Ingeborg Gabriel ist emeritierte Professorin für Sozialethik an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien
1 Viktor Frankl: Wer ein Warum zum Leben hat: Lebenssinn und Resilienz, Beltz Verlag 2017
2 Es gibt Modelle, die den Eingang einer Kirche im Osten und die Apsis im Westen verorten. Seit dem Mittelalter sind Kirchen vor allem aus städtebaulichen Gründen seltener geostet
3 Meist wird obtinere hier mit herrschen übersetzt. Es macht allerdings einen großen Unterschied, ob dieses Wort entlastend in einer Situation der Machtlosigkeit verwendet wird („letztlich herrscht Gott und steht über allen Widernissen“) oder der Macht, wo es leicht zur Legitimierung von Herrschaft gebraucht wird. Da dieser Nachklang nach der Zeit des Staatskirchentums noch gegeben ist, habe ich es anders übersetzt.
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